Tao Forum

Ist sich weltweit jeder bewusst
des Schönen Wirkung als Schönheit,
dann ebenso des Hässlichen.
Ist sich weltweit jeder bewusst
des Guten Wirkung als Güte,
dann ebenso des nicht Guten.

Somit: Sein und Nichts
erzeugen einander,
Schwere und Leichtigkeit
vollenden einander,
Länge und Kürze
formen einander,
Hohes und Tiefes
neigen sich zueinander,
Ton und Stimme
harmonieren miteinander,
Zuvor und hernach
folgen einander!

Daher verbleiben weise Menschen
in ihren Angelegenheiten ohne eingreifendes Handeln,
praktizieren die Lehre ohne Worte.

Alle Geschöpfe entfalten sich da,
doch lassen nicht nach;
sie treten hervor,
doch nicht besitzergreifend;
sie bewirken,
doch nicht darauf pochend.
Sie vollbringen Aufgaben,
doch verweilen nicht dabei:
denn gerade nicht dabei verweilend,
so entschwinden sie nicht.

Der Text ist aus meiner Sicht gar nicht vorschreibend (du sollst nicht bewerten wäre zudem eine Bewertung), sondern beschreibend. Wenn ein Pluspol da ist, ist auch ein Minuspol da. (Freilich kann man darin eine Kritik an Ansätzen sehen, die glauben, man kann einen reinen positiven Bereich schaffen). Zudem erinnert das ein wenig an den Beginn des Xin Xin Ming, eines wichtigen Zentextes:

Der Höchste Weg ist unbeschwert,
nur ohne Wahl .
Nur ohne Liebe und ohne Hass
verstehst du wirklich die klare Leere.
Um Haaresbreite abgewichen
und Himmel und Erde klaffen auseinander.

Auch hier den freien Kommentar von Ray Grigg:

Überall wo Schönheit ist, ist auch Häßlichkeit, die die Schönheit hervorhebt.
Überall wo Gutes ist, ist auch das Böse, um das Gute hervorzuheben.
Sobald jemand zum Gewinner erklärt wird, wird auch ein Verlierer geschaffen.

Niedrig entsteht durch Hoch,
Arbeit aus Spiel,
schwer aus leicht,
Ungewißheit aus Zuversicht,
nicht genug aus zuviel.
Durch gleichzeitiges Erscheinen der Gegensätze ist all unser Denken und Handeln im einen oder anderen gefangen.
Wenn Bedürftigkeit da ist, ist auch Vernachlässigung da.
Erfolg bringt Mißerfolg mit sich. Unwissenheit folgt dem Wissen.

Es gibt einen Pfad zwischen dem einen und dem anderen, den man finden kann, indem man sich mit dem Tao bewegt.
Gehe sanft und geduldig.
Wenn Widerstand auftritt, dann war vorher Drängen da, und das ist nicht der Weg.
Lasse dich in Richtung des Mysteriums bewegen.
Gebe nach und lerne, bis du ein lösendes Dazwischen erreicht hast.
Tust du zuviel, so werden Schwierigkeiten auftreten; denkst du zuviel, so entsteht Verwirrung.
Lasse die natürliche Ordnung aus sich selbst heraus in Erscheinung treten.

Deshalb bedient sich der Weise gleichermaßen des Tuns und des Nicht-Tuns, des Denkens wie des Nicht-Denkens.
Wenn stilles Füllen und Leeren geschieht, tritt alles auf seine eigene harmonische Weise in Erscheinung und verschwindet ebenso wieder, und die Entfaltung des natürlichen Flusses wird nicht gestört.
Obgleich nichts gegeben wird, wird nichts verweigert.
Nährung findet statt, doch wird nichts erzwungen, Ausgleich findet statt, jedoch kein Teilen und Trennen.
Arbeit wird getan, doch hält niemand sich dies zugute. Ist eine Arbeit beendet, wird sie vergessen.
Nicht-Tun wird ebenso gepflegt wie Tun. Leere füllt sich mit Gedanken.

Und den freien Kommentar von Mondrian W. Graf von Lüttichau

Erst seit menschen die welt in schönes und häßliches zerteilen,
wird die hälfte der wirklichkeit als häßlich zurückgewiesen.
Erst seit zwischen gut und böse unterschieden wird,
gilt ein teil der natur als schlecht oder bösartig.

Allgemein können wir sagen:
Sein und nicht–sein grundsätzlich zu trennen, heißt,
das mögliche in seinem wesen teilen zu wollen.
Bestimmte gefühle als selbstverständlich und erlaubt darzustellen,
andere dagegen als ungehörig und unstatthaft, heißt,
in das wesen der sinne einzugreifen.
Zu erklären, dies sei groß, jenes klein, bedeutet,
in einem unteilbaren raum willkürlich grenzen ziehen zu wollen.
Zu einem menschen aufzuschauen, als sei dieser mehr wert als andere,
und jene als unbedeutend und belanglos zu übersehen, heißt,
zwei ordnungen für die wirklichkeit aufstellen zu wollen.
Wer meint, dies sei musik, jenes nur lärm,
sucht zweierlei geräusch in einer welt.
Die vorstellung, vergangenheit sei etwas anderes als zukunft,
hat nur mit den menschen zu tun
und berührt nicht die stete lebendigkeit der zeit.

Ohne uns dem handelnden alltag zu entziehen,
sollten wir doch nichts grundsätzlich ändern wollen,
nichts zer–schiedenes und zer–teilendes anstreben.
Wo wir beeinflussen, sollten wir weder uns noch andere
festlegen auf eine lebensweise oder entscheidung.
Wir sollten nicht zu unserem besitz machen, woran wir arbeiten.
Wir sollten nicht erfolg auf erfolg häufen wollen,
denn es kommt nicht darauf an,
in eine bestimmte und ausschließliche richtung zu arbeiten.
Haben wir eine arbeit beendet, so ist es falsch,
wenn wir um des ergebnisses willen
an diesem erreichten punkt stehenbleiben
oder wenn wir uns mit dem ergebnis der arbeit identifizieren.
Grundsätzlich gilt:
Jedes anhalten um eines ergebnisses willen
hindert uns daran, neues zu erfahren.
Da wir aber kein ergebnis einer arbeit, sei es gegenständlich,
seien es gedanken oder sei es einflußnahme auf andere menschen,
festhalten können auf unserem unabänderlichen weg zum tod,
kann es nicht auf ergebnisse ankommen, sondern nur auf das sehen.*

* Die zeichen für AUGE und GEHENDE FÜSSE ergeben SEHEN

Hier wieder eine ähnlich gelagerte Stelle aus dem Zhuangzi:

Nun gibt es noch eine Ansicht dazu; ich weiß nicht, ob sie in diese oder in jene Kategorie gehört. Ob sie zu dieser oder jener Kategorie gehört – wenn sich die Kategorien wechselseitig bestimmen, dann macht es keinen Unterschied. Auch wenn dem so ist, laßt mich versuchen, diese Ansicht zu schildern. Wenn es einen Anfang gibt, gibt es etwas, was nicht begonnen hat zu beginnen und etwas, was nicht begonnen hat, nicht zu beginnen. Wenn es etwas gibt, das da ist, gibt es etwas, das nicht da ist, gibt es etwas, das noch nicht begonnen hat, da zu sein, gibt es etwas, das noch nicht begonnen hat, nicht da zu sein. Plötzlich gibt es, was nicht da ist. Wenn es das, was nicht ist, gibt, wissen wir nicht, ob es in Wirklichkeit da ist oder nicht da ist. Nun ich habe ich etwas dazu gesagt, aber ich weiß nicht, ob das Gesagte wirklich etwas sagt oder ob es in Wirklichkeit nichts sagt. (...)

Daher: Aufzuhören wissen, wenn man nichts weiß, ist am besten. Wer versteht sich darauf, ohne Worte zu argumentieren und dem Unausgesprochenen des Dao [zu folgen]? Sich darauf zu verstehen, wird ‚natürliche Fähigkeit’ genannt. Füllst du es, wird es nicht voll; schöpfst du daraus, wird es nicht leer; und du weißt nicht, wie das kommt – dies wird ‚Bewahren des Lichts’ genannt.