Tao Forum

Wir wollen hier jede Woche über ein Kapitel des Tao Te King schreiben. Ich benutze die sinngemäße Übersetzung von Hilmar Alquiros.
https://www.tao-te-king.org

Kapitel 1

Kann man Dào erklären, ist es nicht jenes zeitlose Dào.
Kann man Begriffe begreifen, sind es nicht jene zeitlosen Begriffe.
Unbegreiflich ist der Uranfang der Welt, begreiflich nur als aller Dinge Ursprung.
Daher: Ohne ständiges Begehren erschaue sein Geheimnis,
mit stetem Begehren erschaue seine Begrenzungen.
Diese beiden erwachsen aus Einem, doch unterschiedlich bezeichnet:
gemeinsam nenne sie tief und dunkel.
Der Tiefe immer Unergründlicheres – aller Geheimnisse Pforte.

Zu verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten des Anfangs des ersten Kapitels siehe
Wohlfart - Der philosophische Daoismus S. 22-55
Dao – Weg ohne Weg
Konjekturen zur Übersetzung der Anfangspassage in Kapitel 1 des Daodejing

Es hat für mich verschiedene Ebenen. Zum einen dass, was du sagst, zum anderen auch Dao als Fluss, das eben deshalb nicht mit Worten darstellbar ist, weil Worte etwas festes beschreiben, Dao aber fließend ist.
Es ist auch ein Erkenntnisskeptizismus, den man bei Zhuangzi noch stärker findet, Worte können nur ein Hilfsmittel sein, aber das Leben nicht konkret wiedergeben.
Im zweiten Teil geht es zum zwei Modi: dem Modi des Einzelnen, den man beobachten und begehren kann, der die Begrenzungen zeigt. Man könnte auch sgen, den Weg der Wissenschaft.
Zum anderen den Modi des Nichtbegehrens und Nichtwissens, den der (atheistischen) Mystik und der Meditation.
Beides ist letztlich nicht getrennt.
In ihrer Nichtgetrenntheit liegt dann das große Geheimnis, die Pforte zur Wirklichkeit.

Noch ein paar Worte zu einem Wortspiel, was sich nicht gut übersetzen lässt.
Es beginnt:
dào kě dào, fēi cháng dào.
Es spielt mit dem verschiedenen Bedeutungen von Dao, das eine als Substantiv: Dao der Weg, zum anderen dao als Verb, was sagen oder zur Methode machen bedeuten kann.
Wohlfart versuchte es mal mit: Den Weg, den man wegen kann (zur Methode machen kann, aussagen kann), ist nicht der natürliche (dauerhafte, aber sich stets verändernde) Weg.

Dao ist beides: die Leere und das fließende Seiende. Ob die Leere das Ursprüngliche ist, dazu gibt es im TTK zwei Ansätze, einer ist eben, dass sie sich gegenseitig bedingen, keins ursprünglicher ist (Buddha lehrt etwas ähnliches: Geist bedingt den Körper, Körper bedingt den Geist). Die andere sieht in der Leere den Ursprung.
Den Weg, den man wegen kann, ist ein Wortspielversuch, der das dreimalige Dao im Original nahezukommen versucht. Vielleicht wäre es deutlicher als: den Weg, den man zum bewussten Weg (zum Sagen, zur Methode) machen kann, ist nicht der natürliche Weg.
Die Idee Kopf gegen Herz gibt es so im Chinesischen nicht. Xin ist Herz-Geist, man unterscheidet da eher zwischen Herz-Geist und Bauch/Intuition/nichtwillentlichen Geschehen (Ziran). Ich würde da auch im Daoismus beides sehen - das genaue Beobachten der Natur (es ist ein Weg, mehr auf die Natur, den Kosmos bezogen, nicht dem Mensch als Mittelpunkt) und ebenso das Erfahren oder eher Nichterfahren, dem einfach sein im stillen Sitzen/Stehen. (Das Leben wird nicht erfahren (das ist nur eine Kopie), sondern gelebt).
Spiralmäßig klingt mir zu sehr nach Aufstieg. Gerade das seh ich nicht, eher Rückkehr zum Einfachen, Ursprünglichen, Faden (dem, was ohne Eigengeschmack ist).
Gerade Yin und Yang ist ja kein Höher-Tiefer, sondern ein Ineinandergreifen auf gleicher Ebene.

Erstes Wissen kann ebenso wie tiefstes Wissen nicht gedanklich sein.
Die Klänge und Markierungen der Worte liefern nur Andeutungen.
Gedanken vermögen nicht zum Anfang des Anfangs vorzudringen.
Dieser ist dunkles Chaos, ungeteilte Namenlosigkeit.
Erstes Wissen verliert sich in der Dunkelheit des ersten Anfangs.
Es war vor allem Denken, vor allen Unterscheidungen.
Der Anfang wird Große Mutter genannt, das erste Benannte und das erste Geformte.
Die Große Mutter ist alles, und alles ist die Große Mutter. Ihre Natur wird Tao genannt, doch jeder andere Name wäre ebenso gut.
Das Tao liegt jenseits aller Worte und kann nicht gedacht werden.
Studiere, lerne und denke. Fülle dich an mit allem. Dann lasse alles los.
Lerne, und verlerne dann, um das Tao zu erkennen. Suche, auch wenn es immer verborgen bleibt.
Erkenne die äußeren Formen, auch wenn sie noch so manifest sind.
Man bezeichnet sie unterschiedlich und ordnet sie dem zu, was man wissen kann, oder dem, was sich dem Wissen verschließt, doch treten sie aus der einen Quelle in Erscheinung und sind gleich.
Der Anfang ist Dunkelheit. Der Anfang des Anfangs ist Dunkelheit in Dunkelheit.
Finde Dinge und Gedanken im Licht; finde die Anfänge von Dingen und Gedanken in Dunkelheit.
Beginne mit dem Licht, doch bewege dich in Richtung der Dunkelheit.
Alles Erkennen beginnt im Mysterium in Dunkelheit.

Aus meiner Sicht:
Wie schon betont: man muss sehen, dass daoistisches Denken nicht vom Menschen ausgeht, sondern vom Universum, von der Natur. Der Mensch ist nur ein Teil der Natur. Daher stellt es menschliche Prinzipien nicht in den Vordergrund (dazu zählt auch Intelligenz, sie betont, vor allem bei Zhuangzi, aber auch im TTK an einigen Stellen die Einfalt).
Das andere sind andere philosophische und ich würde sogar sagen grammatikalische Sichtweisen.
Im Westen besteht so eine Tendenz, die die Philosophie als Substanzontologie bezeichnet. Man könnte grob sagen, man stellt Subjekt und Objekt in den Vordergrund (und das höchste Subjekt wäre dann Gott). Man könnte sagen, es geht vom Substantiv aus.
Sowohl im Buddhismus als auch im chinesischen Denken gibt es eher eine Tendenz zu dem, was wir in der Philosophie als Prozessphilosophie (Whitehead etc.) kennen, aus der Wissenschaft als Systemtheorie. Da steht das Geschehen im Mittelpunkt, der (harmonische) Ablauf eines Prozesses. Also nicht Subjekt und Objekt, sondern eher ein dazwischen, Hartmut Rosa beschreibt das als Resonanz z.B., grammatikalisch könnte man sagen es ist eher Verb als Substantiv.
Wohlfart beschreibt Dao auch lieber als Lauf (eines Flusses), also eher als fließen, als als Ding.
Das ist auch ein guter Punkt, wo wir die Intelligenz (die das Dao, wenn es alles umfasst, sicher mit umfasst) mit eindenken können: Ist ein Fließen, ist Resonanz vorwiegend von Intelligenz gebildet, oder steht sie Resonanz, Fließen eher im Weg? Wenn in der Musik z.B. improvisiert wird, dann ist das für mich ein Loslassen des Denkens, durchaus ein Geschehenlassen. Man kann vielleicht sogar sagen: Ich und du treten zumindest in den Hintergrund, auch das Wissen, man überlässt sich einem Fluss. Sophie Hunger beschrieb ihr Musizieren einmal so: "Man muss unbewusst sein und naiv."
Ich würde sagen, es ist eher ein sich dem Unbewussten und auch dem Körperlichen, dem Natürlichen, dem "von selbst so" verlaufenden sich anzuvertrauen.
Um mal wieder Stephan aus dem alten Taoismus-Forum zu zitieren:

Ich glaube nicht, dass wir irgendwas in uns selbst suchen sollten. Wir sollten uns selbst vergessen, das Handeln zurücknehmen und das Wissen und nicht suchen sondern schauen und hören, die Ohren öffnen, zulassen, uns ergeben, aufgeben.
Ich glaube, wir brauchen weder im Äußeren noch im Inneren zu suchen. Das Leeren des Herzgeistes halte ich für so elementar: das Wissen vergessen, die Namen, das Selbst, Nicht-Begehren, Nicht-Handeln - Schauen und Hören. Damit habe ich meine besten Erfahrungen gemacht: sowohl, was das Erleben von Kunst und Schönheit und Natur betrifft als auch das Zusammenleben. Eine positive Folge aus dem Zurücknehmen des Ichs ist auch, dass der Geist ruhig und klar wird und dadurch entscheidungskräftiger, mutiger, umsichtiger, einfühlsamer, empfindungsfähiger. Ich erlebe das zumindest so. Da hängt dann auch die "Bewusstlosigkeit" dran. Ich versuche nicht, besser und/oder mehr zu erleben oder zu erkennen oder "Tiefes" vom "Seichten" zu trennen sondern lasse mich zurückfallen und dann schaue ich, was dabei rauskommt. Bewusstlos heisst für mich, nicht zu planen und zu wünschen, sondern einfach schauen und hören, was passiert. Dann kommt eigenartigerweise auch die ("daogemässe", angemessene, dem Augenblick entsprechende) Handlung und die Nicht-Handlung wie von selbst.